Schon lange – genau gesagt seit Mama tot ist – besuche ich dich nicht mehr, deswegen bin ich manchmal unsicher, wie lange es her ist. Vielleicht stimmt das aber auch nicht. Denn wie könnte ich den Tag vergessen.
Oder den anderen.
Ich war sieben und weiss genau, wie ihr geschrien habt und du dann aus dem Haus gestürmt bist. Papa hat weiter geschrien und Mama hat geweint. Ich habe auch geweint, aber verstanden habe ich nichts.
Du kamst an jenem Abend nicht nach Hause. Weihnachten erhielt ich eine Karte, auf der stand „dein Bruder hat dich sehr lieb“. Ein Absender stand nicht drauf.
Danach hörte ich nichts mehr von dir. In Papas Beisein durfte man nicht mal deinen Namen erwähnen. Als ich es einmal versuchte, hätte er mich fast geschlagen. Aber Mama hatte Kontakt zu dir, das erfuhr ich viel später. Ich habe ihr lange nicht verziehen, dass sie mir nichts gesagt hat, auch nicht, als ich älter wurde. Vielleicht wäre sonst alles anders gekommen. Wenn ich mit dir hätte reden können, dann hättest du doch nachgedacht, du warst doch nie – so. Du warst einer, der ohne seinen alten Teddy nicht schlafen konnte.
Wir erfuhren es aus dem Internet. Das Video ging viral, wie man so sagt. Eine Fahne mit einem Regenbogen, ein lachender Junge, der sie trug und mehrere Männer, der ihn niederschlugen. Einer trat so lange auf den Jungen ein, bis er sich nicht mehr bewegte. Er blutete nicht einmal besonders stark, aber er starb wenig später.
Der Haupttäter wurde wegen Mordes verurteilt. Er wird seine volle Strafe absitzen.
Vor allem wohl, weil er nie einen Anflug von Reue gezeigt hat.
Bei meinem letzten Besuch hast du mir deinen Teddy geschenkt. Sein Fell ist ganz transparent, um nicht zu sagen schäbig, vom Liebhaben.
Aber das ändert nichts.
Für niemanden.
Dies ist ein Text für das Projekt abc Etüden. Das Original, erfunden von Ludwig Zeidler, sah vor, eine shortest short story, bestehend aus höchstens zehn Sätzen zu basteln, in denen drei vorgegebene Wörter vorkommen müssen. Letztere Regel besteht nach wie vor, allerdings gilt seit kurzem nicht mehr die Zehn-Sätze Regel. Vielmehr gibt es nun eine 300 Wörter-Grenze.
Aber lest besser selbst bei Christiane nach, sie kümmert sich um alles Organisatorische, vielen lieben Dank 🙂 Wir anderen müssen nur noch schreiben, und zwar alle zwei Wochen mit neuen Wörtern, die aktuelle Wortspende kommt von dergl
Sehr schön geschrieben! Die Geschichte hat mich unglaublich bewegt. Außerdem gefällt mir diese Aktion sehr gut. Irgendwo habe ich schon mal von ABC-Etüden mitbekommen, aber ich wusste nie, um was es dabei geht.
Nun weiß ich es! 😉
LG
Sabienes
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Danke schön, freut mich 🙂 Ja, die Etüden sind ein tolles Projekt. Mach doch mal mit 😉
Liebe Grüsse,
Bettina
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Ich werde diese Aktion einmal im Auge behalten. Aber ich denke, dass ich das zeitlich nicht schaffen werde, mich daran zu beteiligen.
LG
Sabienes
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Super stark. Geht unter die Haut!
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Danke dir!
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Sehr stark !
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Danke schön 🙂
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Sehr gut. Sehr kraftvoll.
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vielen Dank!
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Du hast etwas sehr komplexes angepackt, da gehört auch gerade wenn man sich an einen Täter wagt etwas Mut zu. Natürlich gibt es ein gewisses Klischee (*hat plötzlich „Schrei nach Liebe“ von den Ärzten im Ohr), aber so etwas hat ja immer auch mindestens noch die Facette, dass ein Junge, der zum Beispiel ohne Teddy nicht schlafen kann, Angst im Dunkeln hat etc. nicht nur von der Peer-Group, sondern auch von den Eltern den Stempel „Schwu…tel“ bekommen kann (Stereotypen bla) und das ist für so jemanden mit Männlichkeit nicht vereinbar und entsprechend können die dann meinen sie müssen sich beweisen. Und was taugt besser dazu als so etwas sehr „männliches“?!
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„Schrei nach Liebe“ -genau, daran hat es mich auch erinnert, als ich es ein paar Stunden nach Veröffentlichung gelesen habe. Dabei finde ich dieses Lied gerade wegen dieser Aussage ganz schrecklich. Weil ich nämlich nie weiss, wie das eigentlich gemeint ist. Ironisch? Okay, dann bin ich dabei. Aber vielleicht ist die Aussage ja doch insgeheim die, dass man mit Liebe alles Schlechte verhindern kann.
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Die Aussage ist, der (und auf einige der damaligen Rechten mag das zugetroffen haben) ist so geworden aus Unzufriedenheit. Weil ihm ein ganz großes Versprechen gemacht wurde (von wem?) und das wurde nicht gehalten. Du musst den Entstehungszeitraum sehen. 1993 waren die meisten bekannten rechten Vorfälle in Ostdeutschland und die Leute gingen (sie Rostock-Lichtenhagen) gegen Ausländer weil dieses in Wirklichkeit nie gemachte Versprechen des goldenen Westens, der allen die Lebensbedingungen verbessert nie wahr geworden ist. Ging ja auch nicht. Die Leute waren enttäuscht weil man denen zwar den westlichen Lebensstil und die westlichen Werte hingeworfen hatte „Da habt ihr“, aber ihnen niemand erklärt hat, was man damit macht, wie man das gebraucht, warum das so ist. Nur „Da habt ihr, jetzt passt euch an!“ und alle die Werte, die die hatten waren nichts mehr wert oder wurden als Kommunistisch verteufelt. (Ich habe mit vielen Ostdeutschen Abi gemacht, das ist genau die Wendekindergeneration, da habe ich viel gelernt.)
Was mir noch einfällt als Lied, ich musste bei der Etüde nämlich an meinen Vater denken, „Smalltown Boy“ von Bronski Beat. Das hat er tot gehört. (Man kann den schwulen Subtext auch ausblenden.)
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Oh Mann. Das ist … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Fühlt sich für mich auf jeden Fall sehr echt und sehr realistisch an. Leider.
Liebe Grüße
Christiane
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Danke dir. Ich bin gerade etwas zwiegespalten. Ich glaub, ich würde die Geschichte so verstehen, dass das nur passiert ist, weil dieser Junge oder junge Mann von seiner Familie (bzw dem Vater) quasi verstossen wurde. Die „unglückliche Kindheit bedingt Gewalt“ Schiene. Aber die wollte ich eigentlich gar nicht bedienen.
Allerdings denke ich, die Geschichte bietet viel Interpretationsspielraum, da ja auch die Hintergründe sehr offen bleiben.
Tatsächlich wusste ich noch während des Schreibprozesses nicht, ob der Bruder am Ende der Täter oder das Opfer sein würde – schon spannend, also das Schreiben an sich 🙂
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Nee, so habe ich das nicht verstanden. Das ist für mich eine Verkettung unglücklicher Umstände.
Ebenso interessant fände ich auch die Sicht des Vaters. Ob der jetzt Schuldgefühle hat oder so, ob er trauern kann …
Ja, Geschichten/Figuren entwickeln manchmal ein Eigenleben, ich finde das auch sehr spannend. 😉👍
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