Kennt ihr das? Ihr googelt jemanden, den ihr lange nicht mehr gesehen und gesprochen habt, um zu erfahren, ob es irgendetwas Neues in seinem oder ihrem Leben gibt. Ich mache das ab und zu. Und nicht nur bei Menschen, deren Telefonnummer oder Mail-Adresse ich nicht habe.

Genau.

Ich finde es selbst lächerlich. Wie dumm das ist, wurde mir allerdings erst so richtig klar, als ich wieder einmal Elisabeth googelte.

Elisabeth war vor vielen Jahren meine Gesangslehrerin. Ich, die ich schon immer gerne und auch ganz gut gesungen hatte, dachte eines Tages, du könntest doch mal einen Profi ein Ohr auf deine Stimme werfen lassen, vielleicht hat sie Potenzial. Meine Mutter sagte: „Frag mal Elisabeth, die ist doch Opernsängerin“. Sie kannten sich durch Elisabeths Engagement in einer Elterninitiative, die sich nach dem Atomunfall in Tschernobyl gegründet hatte. Die Gruppe ließ damals Lebensmittel auf radioaktive Belastungen untersuchen und veröffentlichte die Ergebnisse in Broschüren, welche sie im Copyshop meiner Eltern drucken ließen. Ich kannte Elisabeth bis dahin nur in ihrer Rolle als engagierte, politisch interessierte Mutter einer kleinen Tochter, dass sie Sängerin ist, war mir gar nicht bekannt. Ich beschloss, eine Probestunde bei ihr zu buchen, die mir viel Freude bereitete.

So wurde Elisabeth meine Lehrerin.

Gesangsstunden bei Elisabeth waren von Beginn an eine Inspiration. Hey, Stimme, dachte ich schon bald, wie wenig wir uns doch kennen. Ich hatte immer geglaubt, meine Stimmlage sei eher tief. Statt dessen eröffnete mir Elisabeth, dass ich ein Sopran sei. Sie selbst war klassische Altistin, aber sie konnte mir in den Unterrichtsstunden mühelos auch die ganz hohen Töne vorsingen. Schon bald stand das erste kleine Schüler*innenkonzert an. Ich hatte noch nicht allzu viele Gesangsstunden gehabt, trotzdem traute mir Elisabeth zu, mit „I would have danced all night“ aus „My Fair Lady“ an dem Konzert teilzunehmen. Ich weiss nicht, ob ich wirklich schon gut genug war an dem Abend, es gibt leider keine Aufnahme davon.

Aber ich weiss noch genau, wie gut ich mich gefühlt habe.

Trotz aller Fortschritte, die ich machte, hatte ich eigentlich kein Ziel. Inzwischen hatte ich mich zwar mit der Pianistin, die uns bei dem Klassenkonzert begleitet hatte, zusammen getan, wir arbeiteten ein bisschen intensiver an den Stücken, die ich mit Elisabeth im Unterricht übte. Gelegentlich kam ich auch in den Genuss, die Ergebnisse dieser Arbeit auf kleinen Liederabenden, beispielsweise zu Weihnachten, zu präsentieren. Aber ich hatte trotzdem keine Ahnung, wohin das mit der Singerei führen könnte. Zudem war ich damals schon Ende Zwanzig. War es nicht eh zu spät für eine wie auch immer geartete Karriere?

So kam es, dass ich – nach Abklingen der Euphorie des Neuen – unzuverlässiger wurde. Ich übte weniger, und ich fand es zunehmend lästig, in aller Herrgottsfrühe aufstehen zu müssen, um mit der Regionalbahn zum Unterricht zu fahren. Immer öfter fand ich Gründe, um meine Gesangsstunde abzusagen, oft sehr kurzfristig.

Eines Tages erhielt ich einen Brief von Elisabeth, in dem sie mir freundlich mitteilte, dass es unter den gegebenen Umständen wenig Sinn hätte, weiter zu machen. Sollte ich irgendwann das Gefühl haben, mich wieder besser einbringen zu wollen, würde sie sich freuen, wenn wir wieder starten. Beigefügt war ein Scheck über die letzten zwei Stunden, die ich noch nicht genommen, aber bereits bezahlt hatte.

Ich weiss noch, dass ich dachte: Oh Mann, was hat sie für ein Problem, so lange ich bezahle, kann es ihr doch egal sein, ob ich komme oder nicht.

Nein, das war ihr nicht egal. Dazu war ihr ihre Zeit zu schade.

Heute weiss ich natürlich, dass sie genau richtig reagiert hatte.

So endete meine Ausbildung bei Elisabeth unerwartet plötzlich, denn wir starteten nie wieder mit dem Unterricht, nicht mit dem regelmässigen jedenfalls.

Kurze Zeit später ergab es sich, dass ich ein Engagement in einem Musical Chor bekam. In Berlin sollte das Musical „Space Dream“, das damals Kultcharakter in der Schweiz besass, ganz gross aufzogen werden. Man wollte sozusagen sein eigenes „Cats“ und baute sogar eigens einen Hangar des ehemaligen Flughafen Tempelhof zum Musical Theater um. Der Hauptcast war schon besetzt, aber man benötigte noch einen Chor. 90 Personen stark sollte der werden. Ich ging zur Audition und bekam einen Job. Es begann eine der schönsten Zeiten in meinem Leben, auch – oder vielleicht gerade weil – diese Produktion hinter den Kulissen ein ziemliches Chaos war, und unser Chor der reinste Flohzirkus. Womit ich nicht sagen will, dass es an der Qualität unseres Gesanges etwas auszusetzen gegeben hätte, auch wenn die meisten von uns, wie ich, keine Profis waren.

Ich hatte allerdings wieder ein bisschen Blut geleckt, las regelmässig die Zeitschrift „Musical“, hauptsächlich wegen der Anzeigen, die auf Auditions hinwiesen. Es gab immer wieder welche, für die man nicht zwingend ausgebildete Musicaldarstellerin sein musste. Also sang ich ein paar Mal vor. Für „Rent“, für „Chess“, für ein Kindermusical, dessen Titel ich leider vergessen habe.

Wieder regelmässig Gesangsstunden zu nehmen, wäre unter diesen Umständen nur logisch gewesen. Aber das tat ich nicht. Ich nahm nur noch zwei weitere Stunden, um mich für eine der Auditions ein bisschen fit machen zu lassen, nämlich die, die mir Elisabeth damals erstatten wollte. Ihren Scheck hatte ich nie eingelöst.

Eine Rolle bekam ich nicht. Und nachdem das Engagement bei Space Dream 1998 endete, hörte ich mit dem Singen ganz auf. Nicht aus Frust, nicht aus Zeit- oder Geldmangel. Einfach so. Ich glaube, ich habe seitdem, bis ich im Jahr 2014 nach Essen zog und hier einem Chor beitrat, nicht einen Ton mehr gesungen.

Unfassbar.

Aber man verlernt es nicht. Nicht ganz.

Mit Elisabeth hatte ich weiterhin ab und zu Kontakt. Sie lud mich zu den kleinen Konzerten ihrer Gesangsklassen ein, oder zu den Orgelkonzerten ihres Mannes. Sie schrieb mir einen sehr lieben Brief, als sie von meinem schweren MS Schub erfuhr.

Dann starben meine Eltern. Bei der Beerdigung meiner Mutter 2004 spielte Elisabeths Mann Dieter die Orgel, Und nach dem Tod meines Vaters 2010 lud mich Elisabeth eines Tages zu sich nach Hause ein. Das war nur der erste Besuch von vielen, die folgten.

Ich weiss gar nicht, wie ich zu der Ehre kam, so oft bei Elisabeth und Dieter zu Gast sein zu dürfen. Diese Einladungen waren Highlights für Kopf, Herz und Seele.

Elisabeths Wohnung war eher klein. Wohnzimmer, von dem durch nachträgliches Einziehen einer Wand ein Teil zum Kinderzimmer umfunktioniert worden war, Schlafzimmer, Küche, Bad. Im vierten Stock mitten im Problembezirk Berlin-Neukölln. Noch ein Stockwerk über der Wohnung befand sich eine Mansarde, das Gesangsatelier.

Hier stand natürlich ein Klavier, in die Wohnung hätte keins gepasst.

Ebenso wenig wie ein grosser Esstisch, es sei denn, einer, den man ganz klein zusammen schieben kann. Denn bei diesen wunderbaren Zusammenkünften waren ausser mir natürlich immer noch andere Menschen aus Elisabeths Bekanntenkreis eingeladen. Der kleine Tisch wurde zu einem grossen, mit einem schönen Tischtuch und Blumen versehen, mit viel Liebe dekoriert. Meist hatte sie gekocht, nicht immer üppig, denn das Essen war ja nicht die Hauptsache.

Das waren die Gespräche.

Man sprach über alles und jedes Thema, jeder und jede war an dem was die jeweils anderen beizutragen hatten, interessiert. Damit will ich sagen, es gab keinerlei Snobismus oder so etwas wie Klassendünkel, wenn zum Beispiel der Erste Geiger der Deutschen Oper sich mit der jungen Mutter aus der Nachbarwohnung über die Situation an den Berliner Kindergärten unterhielt. Niemand rümpfte die Nase, wenn über das Werk irgendeines Komponisten diskutiert wurde, und ich öffentlich erklärte, von diesem noch nie etwas gehört zu haben. Ich habe an ausnahmslos jedem dieser Abende spannende Menschen kennenlernen bzw mit grosser Freude wiedertreffen dürfen, denn einige der Gäste wurden ebenso wie ich immer wieder eingeladen

Durch diese Menschen und von ihnen lernte und erfuhr ich so viele Dinge, mit denen ich sicher sonst nicht in Berührung gekommen wäre. Nie vergesse ich das genial komische Theaterstück „Der Pate I-III“ der Schweizer Theater Gruppe Far A Day Cage, von dem eine Freundin Elisabeths zu erzählen wusste. Die Truppe gastierte damit gerade in Berlin und ich ging hin. Was soll ich sagen, mir wäre ein grosses Vergnügen entgangen. Dieselbe Freundin Elisabeths war es auch, durch die ich mit den Stücken von Alan Bennett in Berührung kam, denn sie war Schauspielerin und spielte gerade in „Talking Heads“, welches im Berliner Theaterkollektiv „Friends of the Italian Opera“, aufgeführt wurde. Der Name ist etwas irreführend, denn dort werden hauptsächlich Stücke in englischer Sprache aufgeführt. Das Projekt nennt sich inzwischen auch folgerichtig „English Theatre“ . Die Inszenierung war beeindruckend, ich sah das Stück insgesamt dreimal im Abstand von ein paar Jahren.

Im Mittelpunkt stand immer Elisabeth. Sie hatte eine unglaublich starkte Ausstrahlung, sie war so herzlich, man fühlte sich bei ihr einfach wohl. Besonders schön war es, Dieter, ihren Mann, zwischendurch zu beobachten. Er, selbst eher ein ruhiger Zeitgenosse, betrachtete seine Frau immer mit einem leichten Lächeln. Wenn er an ihr vorbei ging, berührte er sie immer kurz zärtlich, ich glaube er war sehr stolz auf sie.

Wenn ich von so einer Einladung nach Hause fuhr, war ich immer wie beschwingt.

Oft nahm Elisabeth mich mit zu spannenden kulturellen Veranstaltungen, zum Beispiel in den Nordischen Botschaften in Berlin. Hier hörte ich einmal ein Blockflötenkonzert. 4 Blockflöten verschiedenster Tonlagen musizierten auf faszinierende Weise. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ein Blockflötenkonzert zu besuchen.

Oder sie schenkte mir eine Karte für eine Operneinführung in der Komischen Oper, weil sie selbst keine Zeit fand, hin zu gehen. Die Veranstaltung begann um 10 Uhr morgens an einem Sonntag, fast hätte ich die Karte verfallen lassen. Aber nur fast, und ich bin wirklich froh, dass ich hingegangen bin. Man bekommt eine ganze Oper erzählt, es sind einige der Musiker und Sänger*innen da, alle leger gekleidet, sie spielen und singen Teile der Oper. Ich weiss inzwischen, dass das Tradition ist in Opernhäusern vor einer Neuinszenierung, damals wusse ich das aber nicht, ich war bis dahin auch noch nie in der Oper gewesen.

Dann zog ich 2014 nach Essen.

Ein paar Mal telefonierten wir noch, aber irgendwann schlief der Kontakt ein.

Ich googelte sie ab und zu, wie ich das auch bei anderen Menschen tue, die ich irgendwann mal kannte. Elisabeth hätte ich wirklich nicht zu googlen brauchen, wenn ich wissen wollte, was es bei ihr Neues gibt, hätte ich sie nur anrufen müssen. Ich kenne ihre Telefonnummer immer noch auswendig.

Ausserdem ergab das Googlen in Elisabeths Falls sowieso nie ein Ergebnis. Sie findet im Internet mehr oder weniger nicht statt.

Dann, eines Tages, irgendwann Anfang 2021, als ich wieder einmal ihren Namen in die Suchmaschine eingab, bekam ich ein Ergebnis. Es war ein Nachruf auf Elisabeth im Berliner Tagesspiegel. Da war sie schon etwa 2 Jahre verstorben.

Ich konnte es nicht fassen.

Elisabeth.

Sie konnte doch nicht tot sein. Ich erfuhr, dass Elisabeth eine seltene, sehr rasch fortschreitende Form der Demenz gehabt hatte. Innerhalb kurzer Zeit war von dieser intelligenten, empathischen, herzlichen, engagierten Frau nur noch ein Schatten übrig geblieben, entnahm ich dem Artikel. Das konnte nicht wahr sein. Elisabeth soll Demenz gehabt haben? Sie war doch Sängerin. Musiker bekommen keine Demenz, dachte ich. Ich war sehr traurig und gleichzeitig wütend. Auf mich selbst. Weil ich es nicht wußte. Nicht auf ihrer Beerdigung war. Weil ich mich seit Jahren nicht bei ihr gemeldet hatte. In jedem Urlaub, jedes Weihnachten wollte ich ihr wenigstens mal eine Postkarte schicken. Habe es aber nie getan.Und dabei habe ich so oft an sie gedacht. Spätestens seitdem ich selbst wieder mit dem Singen angefangen hatte, dachte ich regelmäßig, jetzt mußt du aber mal Elisabeth anrufen, die wird sich so freuen, dass du wieder singst.

Bei meinem nächsten Besuch in Berlin besuchte ich Elisabeths Grab. Das heisst, ein Grab hat sie nicht einmal. Ihre Urne wurde anonym beigesetzt. Zuerst war ich darüber entsetzt. Ich hätte mir gewünscht, dass Elisabeth einen schönen Platz auf dem Friedhof hätte, mit einem Grabstein, der ihrer würdig ist.

Aber im Grunde passt es zu Elisabeth. Sie hat bestimmt irgendwann einmal gesagt, wenn ich sterbe, macht kein grosses Gewese, spendet das Geld, das meine Beerdigung kosten würde, lieber einem guten Zweck.

Liebe Elisabeth, ich denke so oft an dich. Immer, wenn ich singe, aber auch sonst. Wie du wohl über die Corona Krise gedacht hättest. Oder über den Krieg in der Ukraine. Hättest du dein Gesangsatelier wohl einer geflüchteten Mutter mit Kind zur Verfügung gestellt?

Ich bin fast sicher, das hättest du getan.

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Diesen Text schrieb ich für das Projekt „Etüdensommerpausenintermezzo“.

Was es damit auf sich hat, ist hier nachzulesen