Vielleicht hatte alles an dem Tag angefangen, als Vivi in irgendeinem Gesprächszusammenhang „skrupulös“ statt „skrupellos“ sagte und scheinbar nicht erkannte, dass es sich um zwei verschiedene Wörter handelt. Sie lachte nur darüber und erklärte ihre Begriffsstutzigkeit mit der Schwangerschaft. „Das sind die Hormone, Schatz“.
Sie dachten sich auch nichts dabei, als Vivi immer öfter Dinge verlegte. Sie schob es auf Stress im Büro und liess sich Vitamine verschreiben.
Einige Zeit schien alles in Ordnung zu sein. Vivi wurde immer schöner, je runder sie wurde. Sie liebte es, schwanger zu sein, und für Peter war es ein Genuss, ihr dabei zuzusehen.
Eines Tages fing es wieder an. Vivi fragte beim Bäcker nach Rosenkohl, als sie Rosinenbrötchen kaufen wollte, und konnte nicht begreifen, dass die Verkäuferin sie auch nach der dritten Wiederholung nicht verstand.
Dann entdeckte ihr Gynäkologe bei der Routinekontrolle eine Auffälligkeit in Vivis Blutbild und riet zu weiteren Tests.
„Es wird schon nichts sein“, beruhigte sie Peter, der sich Vorwürfe machte, weil er nicht schon vor Wochen darauf bestanden hatte, dass sie sich untersuchen liess.
Aber es war doch etwas.
„Er wächst sehr schnell, und wir können nicht schneiden“, sagten die Ärzte geradeheraus, „wir müssen es mit Chemotherapie versuchen, und zwar am besten sofort“
Zu dem Zeitpunkt war Vivi im fünften Monat.
Sie redeten zwei Tage lang fast ununterbrochen. Das heisst, Peter redete. Dann drohte er ihr, er würde sie verlassen, er beschimpfte sie, er weinte, am Schluss konnte er nicht mehr.
„Du wirst vielleicht nicht mehr genug Zeit haben, das Baby zur Welt zu bringen,“ argumentierte er, „warum willst du euch beide umbringen?“ Und mich dazu, dachte er verzweifelt.
Aber sie war fest entschlossen.
Als ihre kleine Tochter zur Welt kam, hatten sie noch zwei Wochen als Familie.
Und als Vivi schliesslich ging, wusste Peter, dass es gut war.
Dies ist ein Text für das Projekt abc Etüden. Das Original, erfunden von Ludwig Zeidler, sah vor, eine shortest short story, bestehend aus höchstens zehn Sätzen zu basteln, in denen drei vorgegebene Wörter vorkommen müssen. Letztere Regel besteht nach wie vor, allerdings gilt seit kurzem nicht mehr die Zehn-Sätze Regel. Vielmehr gibt es nun eine 300 Wörter-Grenze.
Aber lest besser selbst bei Christiane nach, sie kümmert sich um alles Organisatorische, vielen lieben Dank 🙂 Wir anderen müssen nur noch schreiben, und zwar alle zwei Wochen mit neuen Wörtern, die aktuelle Wortspende kommt von Gerda
Kurz, prägnant, berührend, zum Nachdenken anregend…musste aufpassen, dass nun keine Tränen flossen (Krebs schaute bei mir ja auch mal vorbei…2 x bisher..) und man denkt sich immer, was ist wenn..und ändert dann dennoch nicht viel im Alltag..nun gab es wieder eine gesundheitliche Problematik..ich kündigte..muss ziemlich gut aufpassen, nicht trotzdem mich in Nichtigkeiten zu verlieren…Danke, fürs wieder bewusst machten. – Glg Herta
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eine Geschichte zum Nachdenken, freue dich auf schöne Tage mit hoffentlich gutem Wetter und schönen Farben der Natur.
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In der Familie meines Schwagers hat es solch eine Situation tatsächlich gegeben. Die Frau war ebenfalls an Krebs erkrankt und hat eine Chemotherapie verweigert, um das ungeborene Kind nicht zu schädigen. Sie hat dann mehr und mehr körperlich unter dem Krebs abgebaut, aber sie hat das Kind noch zur Welt bringen können und dadurch soviel Lebenswillen wieder entwickelt, dass sie eine Chemo antreten konnte. Ein ganzes zusätzliches Jahr hat sie jetzt schon so geschafft und wir drücken ihr weiter alle Daumen, dass sie weiter belohnt wird für ihre mutige und uneigennützige Entscheidung.
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Oh, da muss ich jetzt aber wirklich schlucken….. Ich hoffe sehr für deine Schwägerin, dass sie es schafft, Scheiss Krebs (sorry, das musste mal sein)
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Eine Geschichte mit Gänsehauteffekt und doch kann es so kommen …
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herzergreifend
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Traurig, glaubhaft und berührend geschrieben. Danke dafür!
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Vielen Dank, es freut mich ganz besonders, dass du das sagst
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Sie ist traurig, deine Geschichte. Sie ist aber auch mutig.
Meine Hochachtung!
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Danke dir. Ich fand tatsächlich selbst, sie ist grenzwertig. Sie existierte ja schon als Zehn-Satz-Geschichte in den Entwürfen, aber ich wollte sie damals dann doch nicht veröffentlichen. Es ist aber eigenartig, sie ist die einzige Etüde, deren Entwurf ich aufgehoben habe.
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So traurig und doch passiert so etwas immer wieder.
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Oh gott. … Nein wie traurig. Und sehr gut geschrieben. Und traurig. Und gut. Schnief…
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Die Entscheidung möchte ich nicht treffen müssen, aber ich glaube, ich wäre eher Peters Meinung gewesen. Aber wer weiß. Jedenfalls sehr eindringlich geschrieben
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Ich glaube, ich hätte mich auch anders entschieden. Obwohl ich andererseits denke, das kann man nie wissen, bevor man in so eine Situation kommt.
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Wenn ich jetzt sehr sentimental wäre, würde ich weinen – so schlucke ich heftig und sage: Danke für diese Geschichte!
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Ich danke dir!
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Harter Stoff, gut erzählt.
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Vielen Dank 🙂 Tatsächlich habe ich diese Geschichte schon mal als Zehn-Sätze-Etüde geschrieben. Damals erschien sie mir aber zu traurig, und so wurde sie nicht veröffentlicht. Jetzt wollte sie aber doch in die Welt entlassen werden.
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