Liebe Anna, heute habe ich von deinem Tod erfahren.

Die halbseitige Todesanzeige hätte ich nicht übersehen können, selbst wenn ich gewollt hätte, und ich hätte wahrscheinlich gewollt.

Anna, sag mir, soll ich zu deiner Beerdigung gehen, beim Leichenschmaus gefälligen Smalltalk machen?

Warum bist du so nachtragend, höre ich dich sagen, das ist doch alles schon so lange her.

Ich weiss nicht, was ich fühlen soll, ich weiss nur, dass ich nicht fühlen will, was ich fühle, ich dachte, ich hätte das alles schon lange verarbeitet.

Plötzlich sind sie wieder da, die Bilder, wie du halbnackt durch die Wohnung tanzt, deine Art, die Badezimmertür nicht abzuschliessen, wenn du duschst, und den Duschvorhang ganz aus Versehen nicht zu zu ziehen.

Klar bekommt ein Mann da Frühlingsgefühle, vielleicht hätte ich darüber lächelnd hinweg gesehen, aber du sorgtest dafür, dass es dabei nicht blieb.

Du bekamst immer alles, was du wolltest, Anna, jeden Mann, den du wolltest, und du wolltest auch anscheinend jeden, den du bekommen konntest, also warum zur Hölle war ich so überrascht, dass du bei meinem keine Ausnahme gemacht hast.

Ja, warum hast du bei meinem Mann keine Ausnahme gemacht, Anna?

Verdammt, du warst meine Mutter.

 

Dies ist  ein Beitrag zum Projekt abc.etüden , in dem es darum geht, in höchstens 10 Sätzen unter Verwendung von drei vorgegebenen Wörtern eine shortest short story zu erzählen. Erfunden hat diese Aktion der Herr lz von textstaub, der seit kurzem das Hosting vertrauensvoll an Christiane von irgendwasistimmer übergeben hat. Die sehr inspirierende Wortspende kam diese Woche von ruhrköpfe
Macht gerne zahlreich mit, es gibt jede Woche eine neue Wortspende. Ich muss allerdings warnen, das Ganze hat einen hohen Suchtfaktor 🙂